Marie Irmgard: "Savage Glitter"

Savage-Glitter_Marie Irmgard | Photo: Markus Bachmann

Marie Irmgard: Savage Glitter

Kunst | Geschichte | Staunen

Marie Irmgard ist in Kopenhagen aufgewachsen, hat dort Anglistik, Kunstgeschichte und Kunst studiert, unternahm ausgedehnte Reisen in die USA, wurde seit 2003 zu zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Skandinavien eingeladen, lebt seit 2013 in Berlin. Some facts. Marie Irmgard umgreift Genres von konzeptuellen Ansätzen über Fotografie bis zur Malerei, arbeitet in einem künstlerischen und historischen Kontinuum und bezieht sich auf ein Koordinatensystem, das weit genug ist, um Suche und Arbeitsergebnisse von Exponenten wie Cy Twombly, Diego Velasquez oder Yoko Ono in ihre künstlerischen Explorationen einzubeziehen. Other facts. Marie Irmgard wendet sich in ihren neuesten Arbeiten auf Leinwand und Papier noch einmal mit einem neuen, spezifisch malerischen Ansatz der Bildentstehung zu, neben dem pastosen Farbauftrag gewinnt eine oft stark mit Leinöl verdünnte Malweise den Vorrang, vor allem, aber nicht nur bei grossen Formaten. Die Genese des Bildes wird hinausgezögert, verlangsamt. Der Inhalt, die Oberflächen, die Farbe kommen auf den Prüfstand der Zeit. Only facts?

Die Literaturkritik kennt den Ausdruck „god’s eye view“ für eine Erzählperspektive, von der aus Figuren und Ereignisse scheinbar vollkommen transparent und – im Rahmen der Erzählung – als true facts erscheinen: alles ist immer schon gewusst und gewichtet. Am nächsten kommen dem in der visuellen Kunst etwa die mittelalterlichen Bildgeschichten, die im Nebeneinander von Räumen und Erzählungen eine umfassende Gleichzeitigkeit aufspannen: der Maler ist ihr allwissender Chronist. Auch der Kubismus verdichtete dies noch einmal als Anspruch: seine Schachtelung von Perspektiven wollte sich als Zugriff verstanden wissen, unter den Bedingungen des „modernen Lebens“ diese Bedingungen selbst sichtbar zu machen. Oder wie es Guillaume Appollinaire, einer ihrer Wortführer, bündig formulierte: der Kubismus ist ein Realismus. Marie Irmgard verfolgt in ihrer Kunst gegenüber Ansprüchen einer totalisierenden Weltdarstellung einen anderen Weg.
Der Ursprung dieses Weges – denn um ein Unterwegssein handelt es sich, um eine Bewegung, nicht um eine These oder einen polemischen Standpunkt der „bezogen“, bewohnt und verteidigt wird, dieser Ursprung liegt darin, dass Irmgard scheinbar paradox Position nimmt ausserhalb der Polarität von Behauptung und Gegenbehauptung (A vs. non-A), in einer ursprünglichen Ästhetik des Staunens. In einem 2016 publizierten Interview, in dem sie auf die Motive ihrer künstlerischen Arbeitsweise eingeht, sagt sie dazu:
 

„To me passive astonishment is a transcendentalist's outlook. (…) I look a lot at nature's “visual design” - the outlines of dog paws, horses’ canon bones, cat skulls and bird feathers never lose their fascination to me. The same goes for some foods - a broken egg, a mango cut in half and an eggplant - to me there’s everything in that. I can look and look and I still don’t quite get it – but I don’t mind that I don’t get it – as long as I can keep looking, there is no frustration in that look. It’s very much about being in a state where not understanding, or ever expecting to understand but just observing and admiring, is okay.

Man könnte  versucht sein, hier von ‚Subjektivität‘ oder ‚Subjektivierung‘ zu sprechen, aber das ist nicht Irmgards Punkt. Ihre ursprüngliche Einsicht (die etwas mit ihrem Feminismus und der lebensgeschichtlich subtilen Reflexion darüber zu tun haben mag) lautet im Grunde, dass der Subjektivismus in der Malerei – nicht radikal (genug) ist. Jenseits der behauptenden Geste bleibt er in der Praxis der Kunst oft genug zentrifugal, zerstreuend, zuletzt konsumistisch, nicht in der Lage, grundsätzliche Zweifel an der ihm stereotyp unterstellten aufklärerischen Kraft auszuräumen. Weshalb denn auch weniger vornehme Übernamen schlicht Neugier und Abwechslung wären. Der Subjektivismus in der Kunst führt nicht hinab zur Wurzel der einfachen menschlichen Bedürfnisse, allenfalls – wenn immerhin gut gemacht – zu deren Persiflage. Er bleibt insofern zentrifugal. Das Staunen als eingewurzelte Haltung hat hingegen eine andere Orientierung, es öffnet und bündelt zugleich, es ist zentripetal und setzt sich der Schwerkraft der realen Erfahrungsfelder aus, komme da, was wolle. Staunen heisst Beobachten und Warten.

Warten | Verdichten

Eine Malerei aus der Haltung des Staunens heraus verhält sich gegenüber dem Malvorgang nicht gleichgültig. Irmgard setzt in vielen ihrer aktuellen Arbeiten Leinöl als Malmittel ein, dessen lange Trocknungszeit den Prozess der Ausarbeitung teils erheblich hinauszögert. Gewisse formbildende Vorhaben ebenso wie die Erzielung genau gemeinter farblicher Valeurs lassen sich infolgedessen weder willkürlich beschleunigen noch einfach abbrechen. Die nasse Textur der verdünnten Farbe erleichtert die malerische Geste, den zügigen Strich und ist zugleich eine Vorkehrung, nicht den erstbesten gestischen Impuls als Ergebnis zu akzeptieren, sondern die Geste der malenden Hand wiederholt daraufhin prüfen, wie sie sich schliesslich in ein Ganzes fügt.

Spricht man Marie Irmgard bei einer persönlichen Begegnung mit der Floskel an, ob sie Zeit habe, dann bejaht sie das öfters mit dem Hinweis, dass sie ohnehin warten müsse: ein Bild trockne gerade auf einer Arbeitsstufe, ehe sie den nächsten Schritt angehen könne. Es ist dies eine gleichsam aufgehobene Höflichkeit, welche die Person ebenso kennzeichnet wie die Technik der Malerin. Ein Respekt nicht als leere Floskel, sondern als Konzentration auf den offenen Prozess, den Intention und Hand in Gang gesetzt haben. Staunen und Beobachten verlangen in ihrem Fall das Warten geradezu als Grundlage der künstlerischen Arbeitsweise. Für die westliche Normalbetrachtung erscheint das Warten als eine Zumutung: „Warten, so die Standardwahrnehmung, ist leere, verlorene, sinnlos verstreichende Zeit“ (Ralf Konersmann, Warten ist eine Enttäuschung, eine Demütigung, eine Kunst. NZZ vom 12.3.2017). Irmgard hingegen integriert in ihrer künstlerischen Praxis das Warten als Voraussetzung und eine Art Substanz, die das Kunstwerk sich einverleibt. Die Atelierpraxis instrumentiert das Warten maltechnisch: indem Irmgard die Trockung der Farben verzögert, verlangsamt sie den materiellen und vertieft den geistigen Produktionsprozess. Das ermöglicht ihr einen Parallelismus der forschenden Sicht: es sind immer mehrere Bilder in Arbeit, so dass die Entwicklung einerseits jeweils durch die bildspezifische Situation, darüberhinaus aber durch die malerische Erkenntnis von Konstellationen gesteuert wird. Beobachtung darf sich im Detail verlieren, sie darf (mit Schillers Ausdruck) naiv sein, gleichzeitig erreicht sie über das Einzelwerk hinaus die Reflexionsebene des Dialogs, wo die Empfindung des Ganzen (Schillers Sentimentalisches) bei Irmgard an die historischen wie zeitgenössischen Wurzeln ihres künstlerischen Impulses heranreichen.

Oberfläche: I can look and look…

Warten heisst, unter diesen Vorzeichen, Zeit schöpfen; so wie man Atem schöpfen, oder Hoffnung schöpfen kann, aus einer sich stetig erneuernden Quelle. Leere Zeit, die metrische Zeit der Uhren, des Messens, erneuert sich per definitionem nicht. Warten lädt sich dank der Beobachtung mit Energie auf, das ist die Voraussetzung für den folgenden schrittweisen Prozess der Verdichtung. Irmgard setzt dafür selbst sprachlich das Synonympaar observing / admiring ein und grenzt damit ein offenes Beobachten noch vor jedem Urteilen gegen einen analytischen Zugriff einerseits und einen vorab wertenden andererseits ab. Irmgard bringt damit einen bei Andy Warhol notorischen Begriff ins Spiel, aber sie entwendet ihn gewissermassen listig und erweitert ihn über die Sphäre der sozialen Interaktion, der Bespiegelung – ein zerbrochenes Ei, eine Aubergine, oder ein Stilleben sind erst einmal fraglos der Betrachtung wert. Als Erkenntnis ist die Warhol’sche Geste unwiederholbar - sie wäre allenfalls noch kopierbar, aber das ist für Irmgard kein Thema. Jedoch steckt eine Kraft darin, die sie für die Aktualität der Malerei bewahren bzw. wieder aktivieren will.

Mit der Schöpfung von Zeit wird der Handlungsraum geschaffen, in dem das Zusammenspiel inhaltlicher, formaler und malerischer Elemente erkundet werden kann. Dies zeigt gerade auch das bewusste Arbeiten in Serien, in dem sich das Malen gleichsam selbst zusehen darf. Es entspinnt sich ein Zwiegespräch, zwischen den intentionalen Regungen der Malerin und historischen Folien und Vorbildern (Velasquez ist eine wichtige, die Stilleben des Barock wären eine weitere) einerseits und dem aktuellen, materiellen Prozess. Sichtbar werden lässt Irmgard durch ihr Vorgehen eine Polarität zwischen dem Duktus der Hand, in den sichtbaren Spuren der Gestaltung, und dem Eigensinn eines Oberflächengeschehens, das zwar vorbereitet und alimentiert wird, sich jedoch gleichzeitig aufgrund physikalischer und chemischer Gesetzmässigkeiten ‚von selbst’ vollzieht: in der Mischung und Durchdringung von Farben, bei der Herausbildung von Mikrostrukturen des Hintergrunds, welche den neueren Arbeiten ihr besonderes Gepräge verleihen, mit verlaufenden Tropfen (‚runners’), Rissen, Kraquelüren, oder rhizomatischen Effekten, die ein feines, Ordnung versprechendes Linienwerk projizieren. Sie müssen gesehen und verstanden werden zusammen mit den breiten Pinselstrichen, die auf Formaten von mehr als zwei Armlängen mit grossen Schwüngen den Bildraum aufbauen.

In ihrer Malerei vermeidet Irmgard, die Oberflächen als Statements zu artikulieren. Die Oberfläche will vielmehr selbst erst einmal nur an-schau-lich sein, nicht diskursiv im Sinne bedeutungshafter Aussagen oder Inhalte, die wir immer dann heranziehen, wenn wir für Beurteilungen einen Anspruch auf Verbindlichkeit setzen wollen. In der Betrachtung bieten die Oberflächen sich wie Beiträge aus einem fortlaufenden Dialog an, der zwischen der Malerin und der Welt, von der unbelebten Natur bis hin zur Geschichte und Kunstgeschichte geführt wird, der eine narrative Programmatik vermeidet oder doch so weitläufig anlegt ist, dass der Zwischenraum für das individuelle Resumee erhalten bleibt.

Farbe

Die aktuellen Arbeiten Irmgards (aus den Jahren 2017/18) leben von einer Koloration, die ihre Energie und geistige Spannung nicht zuletzt daraus gewinnt, dass die Malerin die Farbe im bildnerischen Prozess erst destilliert. Nicht die Farbe bestimmt das Bild, der Bildprozess entscheidet über die Farbe, er verlangt nach bestimmten Valeurs. Die allenfalls rekonstruierbare konstruktive Ordnung pendelt um eine Vorzeichnung, die sie alsbald wieder verlässt. Sie tauscht die Sicherheit versprechende Definition ein für die Offenheit verheissende Gestaltung, eine Modellierung im Sinne des wissenschaftlichen Modellbegriffs als „Modell für....“, für eine erst noch zu gewinnende Sicht. Die Staunende weiss ja noch nicht, was das ist: eine Blume, ein Haus, ein Strauss, ein Wildbret, ein Zimmer – die Modellierung ist der Weg zu einer Ansicht, hat sich doch das visuelle wie begriffliche Lexikon der Dinge verbraucht, oder ist umgekehrt mit der digitalen Explosion des Semantischen, „überdeterminiert“. Die Beobachterin, die Wartende ist in dieser Situation die wirklich Radikale: sie widerspricht nicht den allgegenwärtigen Bedeutungen, sondern sie vertieft sich in die offenen Fragen des Prozess: Warum ist dies etwas und dies, und nicht etwas anderes? Die Modellierung lenkt die Suche nicht auf etwas Verborgenes hinter dem Vorhang oder eben unter der Oberfläche, sie lässt uns vielmehr das Gewicht der Gestaltung spüren, sie drückt uns die Farbe in die Augen, sie irritiert uns mit der Bewegung, in die sie das Statische versetzt. Die Farbe ist die Bedeutung der Oberfläche. Anfügen, Wegnehmen, Verschneiden, Überlagern von Ebenen, Layers... Das Bild zeigt eine Farbgestalt, deren (oft) zahlreiche Einzelschritte noch ablesbar sind, auch mitgelesen werden dürfen. Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Strategien ab.

Für eine Gruppe von Bildern legt Irmgard über die Grundierung ein Gerüst aus starken dunklen Tönen, die sie mit ihrer Wirkung untereinander, in nachbarschaftlichen Kontrasten, und mit Blick auf das Bildganze immer wieder überprüft. Bereits in dieser ersten Phase verwendet sie die Farben oft stark verdünnt. Das geschieht häufig auf der plan (auf dem Atelierboden) liegenden Leinwand. Stellt Irmgard diese dann aufrecht, entstehen die typischen ‚Runners’, die in Richtung der gewollten Bildneigung mit der Schwerkraft, als überschüssige Farbe ablaufen. Dass diese Farbtränen oft in verschiedene Richtungen verlaufen, zeigt, dass Irmgard die Bildstruktur offen hält, sie nutzt die Entwicklungen der Bildoberfläche als Ausgangspunkt für neue Anknüpfungspunkte. In der Selbstbeschreibung „I look and look...“ steckt insofern gleichzeitig Maxime und Anweisung: in den Genuss des Bildes kommt vor allme, wer die verdichtete Zeit wieder löst.

Eine wichtige Rolle neben der Veränderung des farblichen Grundgerüsts spielt die Technik der Lasur, vor allem mit ungleichmässigen Flächen von Titanweiss in unterschiedlicher Dichte und Konsistenz. Sie können als durchscheinende Wolken auftreten, als gewischte breite Pinselstriche, oder in mehr oder wenigen dichten Schleiern oder Überlagerungen, die teils einer früheren Form folgen, sie dann aber durch einen halbtransparenten Farbauftrag neu interpretieren. Dabei könnte man feststellen, dass Irmgard mit den hellen Farben einen umgekehrten Weg geht wie Mattisse mit den dunklen: setzte dieser speziell auch das Schwarz ein, um das Licht neu in Szene zu setzen, schafft Irmgard es mit hellen Lasuren und alabasterhaft durchscheinenden Körpern (wie in „Primitiver Ersatz“) umgekehrt, den dunkleren Valeurs eine neue Bedeutung zu geben; wie eine Landkarte lenkt, aber auch ein Gelände erst erschliesst, werden die Farben durch die spezifische Koloristik neu orchestriert, um sich durch verschiedene Werke hindurchzuarbeiten: als ob sie in dem nur malerisch zu definierenden Eigensinn ihre Möglichkeiten in Variationen und in unterschiedlichen Kontexten ausloten wollten.

Dies fordert von der Malerin die Geduld, einen Farbwert nicht nur einmalig ins Spiel zu bringen, oder ihn umgekehrt immer mit derselben Valenz zu besetzen, sondern sich auf das jeweilige Bild als besondere Situation einzulassen und das formale wie farbliche Vokabular jedesmal auf seine Gültigkeit und Tauglichkeit zu befragen. So bemerkt man bei den grösseren Formaten die wiederkehrenden Braun- oder auch Grüntöne, prominent etwa in dem Widmungsbild für Charlotte Salomon, „L'ermitage was not the sanctuary it promised to be“, wo sie wie ein Obstinato auftreten, im Zwiegespräch mit hellen, markanten Buntfarben, die inhaltlich wie räumlich – indes nicht perspektivisch – gestaffelte Ausblicke schaffen.

Eine weitere Gruppe von Arbeiten wird insbesondere durch die Berlin Flower Series (2014-2018) repräsentiert, die auf delikate Art und Weise an Bildwelten des spanischen und niederländischen Sieclo d’oro bzw. des Barock anknüpfen, an Stilleben und Interieurs. Durch die beschriebenen Farbstrategien und einen entschiedenen Zugriff der Abstraktion führen sie eine Doppelbewegung aus, die das Interieur und mit ihm das Wohnen (Bauen... Denken...) gleichsam tangential aufgreifen. Die Arrangements werden ‚gebunden‘ und wieder aufgelöst, für sich gestellt und gebündelt, mit Stimmungen infiziert (in bester Manier historischer Vorbilder) und in einer nächsten Manifestation des Zyklus auf Null Grad Kelvin abgekühlt. Es ist faszinierend zu sehen, wie Irmgard gewissermassen einen Wortschatz für die Befindlichkeit des Wohnens entwickelt, der auch in Grossformaten weiter bearbeitet wird. Nicht das Wohnen, das Prekäre des Wohnens ist ein Existential. Das Nomadische ist Sehnsucht und löst zugleich Furcht aus; auf die emotionale Unausweichlichkeit, sesshaft zu werden – unter oft ebenso schwierigen wie fragwürdigen ökonomischen und sozialen „Rahmenbedingungen“ – antwortet die Auflösung der Ordnung, die sich dann unter neuer Gestalt neu aufstellt.

Im Zyklus der Berlin Flower Series ist der – aus früheren Werkphasen bekannte – pastosere Farbauftrag wiederum weiter verbreitet. Pinsel und teils Spachtel kommen dann entschieden zum Einsatz für einen dicken Auftrag kräftiger Farben, die durch die Malbewegungen teils in parallelen Linien, Schnüren oder Schlieren geführt werden, teils sich inniger vermischen. Der dickere Farbauftrag, das Impasto verleiht der Bildoberfläche oft fast reliefartigen Charakter und ermöglicht in intimeren Formaten besondere Intensität. Es sind Kammerspiele der Variation im Seriellen, die es zugleich vermögen, subtile Stimmungen zu befragen. Irmgard setzt dabei teils die grundierte Leinwand direkt als Hintergrund ein, teils versetzt sie das Blumenstück in einen fiktiven Raum, indem sie eine andere Hintergrundfarbe und einen sockelartigen Untergrund für das drappiertes Arrangement wählt (wie in „Gawkey“). Dabei greift sie auch zu irritierenden Umkehrungen, etwa wenn sie in „Palpable Poignancy“ den (ebenfalls sichtbar platzierten) Vasenkörper in einem dunklen Braun, aber transparent ausführt, das dicht gestaffelte Blütenbouquet hingegen wiederum als Impasto gestaltet.

Savage Glitter

Die Titelphrase der Berliner Ausstellung im April 2018: Savage Glitter, hat Irmgard dem Roman “The Quick and the Dead” von Joy Williams entnommen, sie spielt an auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Romantischen (Wildnis) und der Gesellschaft (Tand/Flitter), zu denen wir uns wie zwischen zwei Polaritäten widersprüchlich hingezogen fühlen. Die Geschichten, die alles erklären, sind irgendwann – oder ganz plötzlich – nicht mehr glaubwürdig. Bilder über Geschichten, Bilder die glaubten etwas erzählen zu können (oder zu müssen), verlieren in der Moderne immer wieder den Boden; oder müssen sich neues Terrain erobern. Ein „Bild über“, das scheint wie Programmmusik...

Irmgard hat sich intensiv mit der Frage der Darstellbarkeit befasst. Sie hat Agnes Martins apodiktische Aufwertung der Komposition zulasten der Farbe, der reinen Schönheit zulasten der Natur reflektiert, aber sie fasst die Gegenständlichkeit nicht als Tabu auf, sondern als Dimension des Interesses und der Anthropologie. Ihre Flektion des fotografischen Bildes in den Diptychen aus Fotografien und abstrahierenden Acrylarbeiten in dem Zyklus New Mexico 17 Years After (2010) oder in der Booth-Serie (2011) können bereits in diesem Sinne als Antwort (und Lösung) auf den Zweifel an rein kompositorischen Strategien gesehen werden. Der Formreflex, so scheint eine Schlussfolgerung zu lauten, kann wohl ignoriert werden, aber die Inhalte des menschlichen Existierens, die Szenen aus dem Alltagsleben, sind Wiedergänger, und zwar auch dann, wenn sie nicht ins Narrative gewendet werden. Irmgard schiebt diese Existentialien, die wir in unseren Geschichten ganz alltäglich uns erarbeiten, gleichsam als Fragen durch den geöffneten Vorhang auf die Bühne, wo sich das Publikum mit ihnen, gewollt oder nicht, auseinandersetzen muss: Blumenarrangements, Interieurszenen aus der Intimität des Wohnens, oder die bereits erwähnten Kompositionen, die das Stilleben spanisch-niederländischen Zuschnitts reflektieren, spiegeln Rituale und Residuen des Alltags in die Betrachtung und versetzen die alte Dialektik von Öffentlichkeit vs. Privatheit auf beunruhigende Weise in Schwingung: Was wird aus unseren Festen der Begegnung, aus regligösen oder zivilen Anlässen? Gehört das Private, das Interieur, künftig auch in die Sphäre der Männlichkeit, oder bricht im Gegenteil der Impuls zur Gestaltung die einst gender-typischen Attribute auf? Ist das Blumenarrangement „Restnatur“ (Wildnis) oder visuelles Echo der „reaktionären Kleinfamilie“ oder etwas Drittes, zum Beispiel die – durchaus marxianisch – befreite Bearbeitung des Vanitas-Motivs, im Rahmen eines freien Spiels um dessen neue Interpretation, die sich auch provozierend kleiden darf (Glitzer)?  

Marie Irmgard versteht es auf geschickte Weise, Fragen dieser Art malerisch zu bearbeiten, ohne ihren Adressaten ein Drehbuch vorzugeben. Farben können nicht metaphorisch sein, aber Weiss als Moderator der Farben kann – wie bei Irmgard – die Wörtlichkeit der Farben auf den Prüfstand stellen und sie kann die Eindeutigkeit der Dinge – was bedeutet was – hinter dem Schleier des Nichtwissens aufheben. Die Wendung Das Tabu war ethnologisch und später psychoanalytisch jene Botschaft, an die nicht gerührt werden durfte. Irmgard zeigt durch Verbergen (Lasieren, Wischen, Dekonstruieren) und erst dadurch wissen wir, dass da: etwas ist.

© Text (2018): Galerie1214 | © Image: Marie Irmgard; Photographer: Markus Bachmann (2018)

 

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